Als der Berg ins Meer wandern wollte
Als der Berg ins Meer wandern wollte
VON UNSEREM KORRESPONDENTEN IN VENEZUELA
ZWISCHEN Venezuelas Hauptstadt, Caracas, und dem Meer liegt der 2 000 Meter hohe Berg El Ávila. An seiner Nordseite befindet sich ein schmaler, dichtbesiedelter Küstenstreifen. Hier liegt Venezuelas wichtigster Flughafen. Um vom Flughafen nach Caracas zu gelangen, müssen die Reisenden durch einen Tunnel fahren, der direkt durch den Berg getrieben wurde.
Nach den sintflutartigen Regenfällen im Dezember 1999 hatte die völlig aufgeweichte Erde an den Hängen des El Ávila keinen Halt mehr. Der Berg schien förmlich aufzubrechen, als Zehntausende von Kubikmetern Wasser wie eine Sturzflut die Berghänge hinunterschossen. Es sah so aus, als wollte der Berg ins Meer wandern — so beschrieb es ein Augenzeuge. Häuser, ob Hütten oder Villen, wurden unter einer Lawine aus Wasser, Schlamm, Steinen und Bäumen begraben. Betten, Kühlschränke, Fernseher und natürlich auch Menschen wurden einfach fortgerissen. Ein älterer Mann sagte, er habe gedacht, der Weltuntergang sei gekommen.
Schließlich ließ der Regen nach, und die Wassermassen nahmen ab. Einer Schätzung zufolge sollen ungefähr 50 000 Menschen umgekommen und 400 000 obdachlos geworden sein. Völlig zu Recht hat man diese Katastrophe als „die schlimmste Naturkatastrophe in der Geschichte Venezuelas“ bezeichnet.
Knapp entkommen
Am 15. Dezember saßen Juan Carlos Lorenzo und sein Vater zwischen zwei hoch angeschwollenen Flüssen fest. Sie ließen ihr Fahrzeug stehen und schlossen sich 35 anderen Personen an, die sich in einem Gebäude aufhielten. Kurz darauf drang jedoch das Wasser auch in das Gebäude ein und stieg schnell an. Alle konnten sich auf das Dach retten. Mittlerweile rammten Felsbrocken und Bäume das Gebäude. In kürzester Zeit waren die Wände der ersten und zweiten Etage zerstört, und es standen nur noch die Säulen und das Dach. Das wacklige Gerippe erzitterte bei jedem neuen Schlag.
Ein Hubschrauber kam, konnte jedoch auf dem instabilen Gebäude nicht
landen. Als er wieder abdrehte, waren Juan Carlos und sein Vater überzeugt, daß nun alles aus war, und verabschiedeten sich unter Tränen voneinander. Doch dann kamen zwei Hubschrauber. Nacheinander wurden alle Personen dank des geschickten Flugmanövers der Piloten vom Dach hinaufgezogen und in Sicherheit gebracht. Gerade als die Hubschrauber abflogen, wurde das Gebäude von den tosenden Wassermassen mitgerissen. Es war Rettung in letzter Minute.Tausende von Menschen mußten evakuiert werden — mit kleinen Flugzeugen, über den Landweg und mit Marinetransportschiffen, die für eine Küstenlandung ausgerüstet sind. Endlose Schlangen von Menschen — manche trugen Kinder auf den Schultern — wurden mit Hilfe von Seilen durch die Brandung auf Boote geführt. Einige konnten zwar ein paar persönliche Gegenstände retten, aber viele kamen nur mit dem, was sie gerade auf dem Leib trugen, davon.
Hilfsaktionen
Sowie man im Zweigbüro der Zeugen Jehovas in Venezuela von der Katastrophe hörte, wurden Hilfsaktionen eingeleitet. Die Straßen waren jedoch entweder von Trümmern übersät oder waren einfach weggespült worden. Nach wenigen Tagen wurde allerdings eine Fahrspur der wichtigsten Verbindungsstraße für den Katastrophendienst freigegeben, und auch Fahrzeuge von Zeugen Jehovas mit Medikamenten und Fachkräften durften passieren. Ein Beamter sagte später: „Die Regierung ist sich sehr wohl dessen bewußt, daß Jehovas Zeugen unter den ersten waren, die zur Hilfeleistung eintrafen und Menschen aus dem Katastrophengebiet herausholten.“
Die Zeugen leiteten eine systematische Suche nach denen ein, die Hilfe benötigten. Evakuierte wurden nach Caracas gebracht. Viele von ihnen standen ohne alles da. In der Stadt wurden Sammelzentren eingerichtet, so daß Nahrungsmittel, Kleidung und Medikamente an Hilfsbedürftige verteilt werden konnten. Die meisten von ihnen brauchten jedoch nicht nur Nahrung und Kleidung. Sie benötigten dringend ein Dach über dem Kopf. Ihre Glaubensbrüder nahmen sie gern auf.
Und auch nach der Katastrophe beherbergten manche noch lange Freunde und Verwandte. Joel und Elsa, Zeugen Jehovas in Puerto Cabello, leben in einer kleinen Wohnung. Einen Monat nach dem Unwetter wohnten immer noch 16 Personen bei ihnen. Viele hatten nicht nur ihr Haus, sondern auch ihre Arbeit verloren. Ihr Arbeitsplatz existiert einfach nicht mehr.
Leider waren auch einst belebte Urlaubsorte und Hafenstädte praktisch nicht mehr wiederzuerkennen. Fahrzeuge ragten hier und dort aus dem Schlamm heraus, während andere gegen Mauern gedrückt oder um Pfosten gewickelt worden waren oder sich in Türen und Fenstern verkeilt hatten. Die hartgewordene Schlammschicht, die mancherorts 3 Meter tief war, machte die Straße so hoch, daß man als Fußgänger auf gleicher Höhe mit einem der oberen Stockwerke oder sogar mit dem Dach der Gebäude war, an denen man vorbeiging.
Wie einige Menschen in Venezuela erklärten, habe die Katastrophe sie etwas Wertvolles gelehrt: ihr Vertrauen nicht auf materielle Dinge zu setzen (Lukas 12:29-31). Vielen ist jetzt der Rat Jesu Christi begreiflich geworden: „Hört auf, euch Schätze auf der Erde aufzuhäufen, wo Motte und Rost sie verzehren und wo Diebe einbrechen und stehlen. Häuft euch vielmehr Schätze im Himmel auf, wo weder Motte noch Rost sie verzehren und wo Diebe nicht einbrechen und stehlen. Denn wo dein Schatz ist, da wird auch dein Herz sein“ (Matthäus 6:19-21).
[Karte/Bilder auf Seite 16, 17]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
VENEZUELA
Caracas
Katastrophengebiet
KOLUMBIEN
[Bild auf Seite 17]
Rubén Serrano vor den Ruinen seines Hauses
[Bilder auf Seite 18]
1 Freiwillige Helfer in Caracas sammelten Hilfsgüter
2 und 3 Die Versammlung Maiquetía schaufelte eine 2 Meter dicke Schicht hartgewordenen Schlamm aus ihrem Königreichssaal
4 Diese Zeugen verloren ihre Häuser; sie halfen bereitwillig mit, für sich und für andere neue Häuser zu bauen
5 Eins der neugebauten Häuser in San Sebastián de los Reyes